Wir wandelten im Garten
als alles noch vollkommen war.
Wir lebten um des Lebens Willen
als weder Glaube noch Hoffnung
sondern nur die Liebe wirkte.
Wir waren Kinder
und kannten kein Erwachsenensein.
Wir wussten von nichts
aber ergriffen alles.
Wir wurden einst getrennt
und wurden zum Ich.
Ich verlor alles
auch den Zugang zum Garten.
Nur meine wagen Erinnerungen nicht
als Ich und Du im Garten eins waren: Wir …

von Giovanni Grippo

Das Gedicht »Wir wandelten im Garten« entstammt dem Freigärtner-Milieu und ist eine Anspielung auf den ersten Grad der Freigärtnerei, dessen Kerninhalt der Garten Eden ist.

Literarische Analyse:
Das Wir-Gefühl der biblischen Paradies-Erzählung kommt zu Beginn des Gedichtes zum Ausdruck. Dabei bezieht es sich zugleich auf Adam und Eva also auf das zwischenmenschliche Wir aber auch auf das Wir zwischen Gott, Schöpfung und Mensch. Erst gegen Ende des Gedichtes tritt das Ich hervor, in Folge dessen der Zugang zum Garten versperrt ist. Das Du kann gleichermaßen für Gott, Schöpfung und anderen Menschen stehen.

Das Personalpronomen Wir wird sechs Mal erwähnt, Ich dreimal und Du ein einziges Mal. Die große Distanz, die Barriere des Wir und des Ichs zum Du tritt wirksam hervor.

Das Kindsein im paradiesischen Sinne hat weder Glaube noch Hoffnung nötig, weil die Liebe alles ermöglicht. Das Erwachsenensein ist hingegen von Glauben und Hoffnung gänzlich durchdrungen und auf der Suche nach jener göttlichen Liebe, die der Mensch von sich getrennt glaubt. Zudem könnten der dritte Satz (6. und 7. Satz) den Zustand von Kindern in Körpern von Erwachsenen versinnbildlichen.

Bibelbezug:
Das Leben im Paradies war um des Lebens Willen ohne Forderungen und Bedingungen, was in Bezug zum Erwachsenensein gestellt wird, das wiederum mit Forderungen und Bedingungen einhergeht. Die Anspielung auf Korinther 13,13, worin die drei christlichen Tugenden (Glaube, Hoffnung und Liebe) erwähnt werden, wovon die Liebe die höchste sei, kreiert eine Verbindung zwischen dem Alten Bund bzw. Alten Testament und dem Neuen Bund bzw. Neuen Testament. Dies wird auch durch die Anzahl der 15 Verse unterstrichen. Denn die Zahl 15 setzt sich aus der 7 (die für den Schabbat steht) und der 8 (die für die Auferstehung steht) zusammen. Ein Hinweis auf den achten Tag der Schöpfung (Apokalypse).

Der fünfte Satz beginnt, wie die vier vorhergehenden mit Wir aber endet mit Ich. Das ist gleichzusetzen mit dem fünften Schöpfungstag als tierisches Leben (im Wasser) auf die Welt kam. Der Mensch wurde erst am sechsten Schöpfungstag erschaffen, was im Gedicht damit wiedergegeben wird, dass der sechste Satz mit Ich beginnt. Obwohl am sechsten Tag nicht die Individuation des Menschen geschah und der Mensch auch noch nicht aus dem Garten Eden verbannt wurde, kündigt sich in diesen zwei Versen die Tragik des menschlichen Schicksal mit aller Härte an.

Freigärtner-Loge / Freimaurer-Loge:
Ganz im Sinne von Jean Paul (1763-1825), dass die Erinnerung das einzige Paradies sei aus dem der Mensch nicht vertrieben werden kann, ist der letzte (15.) Vers programmatisch. Es offenbart den Weg zu Gott und zurück ins Paradies über das Ich, zum Du, zum Wir und damit wieder zum Beginn des Gedichtes zurück.

Das Zitat stammt aus seinem Buch »Die unsichtbare Loge« (1793). Es ist eine Anspielung auf die Freimaurerei und noch im Konstitutionenbuch (1723) von James Anderson (1678-1739) wird darauf verwiesen, dass das Paradies eine Loge gewesen sei. Gott instruiert laut diesen Vorstellungen persönlich Adam und Eva in der Gartenkunst und in der Geometrie.

Soziopolitisch:
Gesellschaftskritisch wird damit das Du als Sozialanklage, d.h. »Du bist Schuld« und »Du bist unmenschlich« verdeutlicht. Das Ich als soziopolitische Kritik indem das »Ich bin«, »Ich will« und »Ich kann« der heutigen Gesellschaft zur Schau gestellt wird. Das sechsmalige Wir zeigt den größten Mangel eines Gemeinschaftsgefühl auf, sei es das fehlende Wir mit Gott (1.), dem Universum (2.), der Natur (3.), den Pflanzen (4.), den Tieren (5.) und den Menschen (6.).

Dabei hebt sich der klare Wunsch hervor, dass die mangelnde Einheit und das fehlende Gemeinschaftsgefühl der heutigen Gesellschaft auch mit Zahlen überwunden werden kann: 6 mal Wir, 3 mal Ich und 1 mal Du, d.h. 6+3+1, was die Zahl 10 ergibt und 1+0 ergibt wiederrum die Zahl 1. Die absolute Zahl für die Einheit, d.h. für das Wir und für den Wunsch »Wir sind eins.«

Zahlenmystik:
Interessant erscheint auch die zahlenmäßige Erwähnung der Sätze, Verse, Personalpronomen und Substantive sowie der Versanzahl zu sein. Es handelt sich um ein Gedicht mit insgesamt sieben Sätzen oder 15 Versen, das aus 69 Wörtern besteht. Der zweite Satz besitzt als einziger drei Verse.

Die ersten fünf Sätze beginnen mit dem Personalpronomen Wir und der letzte Vers endet damit. Es soll eine immerwährende Kontinuität erzeugt werden, denn dadurch wird vom letzten Vers auf den ersten Vers verwiesen, der mit Wir beginnt.

Das Gedicht hebt die Liebe in verschiedenen Weisen hervor. Mit den 15 Versen wird z.B. auf die 15×15 Tage verwiesen, die der Planet Venus zur Umrundung um die Sonne benötigt. Der Planet Venus steht für die Liebe, die in der griechisch-römischen Mythologie mit Aphrodite und Venus gleichgesetzt wird. 15 Arten von Liebe zählt das Hohelied der Liebe sowie der Verweis auf Korinther 13,13: Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Anzahl der Buchstaben (69) kann u.a. als Hinweis auf die körperliche Liebe verstanden werden (vgl. 1. Buch Moses 2,24).

Drei-Wort-Verse:
Wir waren Kinder
aber ergriffen alles.
Ich verlor alles

Vier-Wort-Verse:
Wir wandelten im Garten
und kannten kein Erwachsenensein.
Wir wussten von nichts
Wir wurden einst getrennt
und wurden zum Ich.

Fünf-Wort-Verse:
als alles noch vollkommen war.
als weder Glaube noch Hoffnung
sondern nur die Liebe wirkten.
auch den Zugang zum Garten.
Nur meine wagen Erinnerungen nicht

Sechs-Wort-Vers:
Wir lebten um des Lebens Willen

Neun-Wort-Vers:
als Ich und Du im Garten eins waren: Wir ...

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